Ausdruck eines politischen Reifeprozesses
Von Klaus von Raussendorff
Als in Deutschland der Aufruf „Sagt NEIN, ächtet Aggressionen, bannt die Weltkriegsgefahr!“ am 25. August 2015 den Mitgliedern des Deutschen Bundestages in einem Offenen Brief zugestellt wurde, war den Initiatoren der deutschen Kampagne „Deutschland raus aus der NATO – NATO raus aus Deutschland“ nicht bewusst, dass in Frankreich und Italien zuvor gleichartige Kampagnen initiiert worden waren. Auch dort besteht die jeweilige nationale Kampagne aus einem Aufruf in Verbindung mit einer Aktion, die konkret an die parlamentarische Vertretung der Nation gerichtet ist.
In Deutschland wurden die Abgeordneten um eine persönliche Antwort auf folgende Fragen gebeten:
1. Sind Sie bereit, sich dafür einzusetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland umgehend aus dem NATO-Vertrag ausscheidet?
2. Sind Sie bereit, sich dafür einzusetzen, dass die Bundesregierung den Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland umgehend kündigt?
3. Sind Sie bereit, sich dafür einzusetzen, dass die Bundesregierung die gegen Russland gerichteten Sanktionen unverzüglich aufhebt und dauerhaft auf deutsch-russische Beziehungen im Geiste von Zusammenarbeit und Partnerschaft hinwirkt?
Die „Anti-NATO-Allianz“ in Deutschland (www.neinzurnato.de), die sich auf der Grundlage des Aufrufs konstituierte, besteht bisher aus über 50 Formationen der Friedensbewegung, die bei aller Pluralität darin übereinstimmen, dass sie bereit sind, die Forderung nach Kündigung des NATO-Vertrages und des Truppen-Aufenthaltsvertrages im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu vertreten.
Italien
Austritt aus der NATO ist auch in Italien das Ziel einer Kampagne, die als Idee zuerst bei einem Treffen des italienischen Netzwerks „Nein zum Krieg“ in Rom im Dezember 2014 entstand. Öffentlich vorgestellt wurde die Kampagne „Italien raus aus der NATO“ auf einer Pressekonferenz in Rom am 21. April 2015. Dort erläuterten die Initiatoren der Kampagne die Gründe für ihre Initiative. (Manlio Dinucci, Campagna (Fuori l’Italia dalla Nato» in il manifesto, 23 aprile 2015) Unter dem Vorsitz des Ingenieurs Vincenzo Brandi sprachen die Senatorin Paola De Pin, die Journalisten Manlio Dinucci (von der Zeitschrift Manifesto), Fulvio Grimaldi (auch in Deutschland bekannter Filmdokumentarist) und Giulietto Chiesa (Chefredakteur des Internetsenders www.pandoratv.it, Gründer des Nachrichtenportals www.megachip.info, Fellow des Wilson Center Washington, früher 20 Jahre Korrespondent in Moskau), ferner der sozial engagierte Pater Alex Zanotelli, der Historiker Franco Cardini und der Universitätsdozent Massimo Zucchetti. Zugleich wurde ein Verfassungsgesetzentwurf der italienischen Senatorin Paola De Pin („Gruppo Misto“) vorgestellt, der den Austritt Italiens aus der NATO zum Ziel hat.
Die italienische Kampagne startete mit einer Unterschriftensammlung für den Aufruf „Italien aus der Kriegsmaschinerie herauslösen – Artikel 11 der Verfassung verwirklichen“. Der Aufruf kann im Internet unterzeichnet werden. (Deutsche Übersetzung hier). Er hat in wenigen Tagen etwa 7000 Unterschriften bekommen. Am 13. September 2015 waren es 12.788 Unterstützer.
Unter den Erstunterzeichnern sind der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Theater- und Filmschaffende Dario Fo, der hohe Richter und Politiker Ferdinando Imposimato, der Journalist Gianni Minà, der Zeichner Vauro Senesi, die Philosophen Gianni Vattimo und Domenico Losurdo, der Philologe Luciano Canfora, der Journalist Antonio Mazzeo, der Essayist Francesco Gesualdi, der Gewerkschafter Giorgio Cremaschi, der Komponist David Riondino.
Der Aufruf thematisiert insbesondere die kolossale Verschwendung öffentlicher Mittel, die den Sozialausgaben für ein Bündnis entzogen werden, dessen Strategie offensiv ist, ferner die Unterwerfung Italiens unter die USA, was in dem Netz von Militärstützpunkten der USA/NATO auf italienischem Territorium zum Ausdruck kommt sowie das Vorhandensein atomarer Bomben der USA auf italienischem Territorium in Verletzung des Atomwaffensperrvertrages.
Die Problematik der Mitgliedschaft Italiens in der NATO ist somit im Parlament mit dem Entwurf eines Verfassungsgesetzes, das den Austritt Italiens aus der NATO zum Ziel hat, durch die Senatorin Paola De Pin mit Unterstützung von Senator Bartolomeo Pepe (beide von der „Gruppo Misto“) eingebracht worden, unterstützt durch die pluralistische italienische Friedensbewegung, die die Forderung nach NATO-Austritt in den Mittelpunkt ihrer Aktionen stellt.
Frankreich
In Frankreich startete das Comité Valmy am 1. Juni 2015 eine Kampagne mit dem Aufruf „Für die Kündigung des Nordatlantik-Vertrages durch Frankreich und den Rückzug seiner Streitkräfte aus dem integrierten Kommando“ (Deutsche Übersetzung hier) Für die Unterzeichnung per E-Mail wird gebeten, vorläufig folgende Adresse zu benutzen: info@comite-valmy.org) Das Comité Valmy formierte sich 1998 in Fortsetzung des Comité pour une Europe des Peuples et Nations Souveraines. Es vereint Aktivisten und Persönlichkeiten verschiedener Orientierungen des so genannten „Arc républicain“, worunter man in Frankreich ein Spektrum von Kommunisten, Gaullisten und republikanisch-fortschrittlichen Demokraten versteht. Das Comité Valmy bezeichnet sich selbst auf seiner Webseite „als eine republikanische, laizistische, progressistische Organisation. Ihre strategische Herangehensweise und Ziele sind zugleich patriotisch, internationalistisch und anti-imperialistisch.“ (Siehe hier). Die Erstunterzeichner des Aufrufs sind folgende Gruppierungen : Comité Valmy, Collectif Résistance et renouveau gaullien, Mouvement pour un socialisme du 21ème siècle, Association France – Corse, Comité pour une Nouvelle Résistance – CNR, Association NordSudPatrimoineCommun, Mouvement Républicain de Salut Public, Comaguer, Editions Démocrite, Association Espace Che Guevara Bolbec, Cercle des Patriotes Optimistes;
Aufgrund des Aufrufs brachten am 7. Juli 2015 drei kommunistische Abgeordnete, Jean-Jacques Candelier, Patrice Carvalho und Gaby Charroux, in der französischen Nationalversammlung den Vorschlag einer Resolution ein, deren einziger Artikel lautet:
„Die Nationalversammlung
in Anbetracht (der Verfahrensregelungen/Anm.K.v.R.) in Artikel 34-1 der Verfassung – Artikel 136 der Geschäftsordnung (der Assemblée nationale/Anm.K.v.R.)
ist für den Austritt Frankreichs aus dem Nordatlantikvertrag sowie die Auflösung dieser Organisation.“
Zur Begründung der Resolution wurde der Wortlaut des Aufrufs wiedergegeben.
Fazit
Alle drei Kampagnen in Italien, Frankreich und Deutschland sind Ausdruck eines politischen Reifeprozesses im Bewusstsein weitester Kreise, der zu der Erkenntnis geführt hat, das die Friedensbewegung nur dann als eine wirklichen Kraft im Kampf gegen Militarismus und Krieg erfolgreich sein kann, wenn sie eng verbunden ist mit weitergehenden Strategien wie u.a. der Wiedergewinnung und Verteidigung der nationalen Souveränität, der weitest gehenden Ausschöpfung und Erweiterung der demokratischen Mittel und Möglichkeiten innerhalb des eigenen Staates und der aktiven Einflussnahme auf die Gestaltung einer bündnisfreien, friedlichen Außenpolitik der Regierung des eigenen Landes.
Alle drei Kampagnen zeigen eine Herangehensweise, die grundsätzlich verschieden ist von derjenigen, die mit dem Stuttgarter Appell vom 5. Oktober 2008. gewählt wurde. Der Stuttgarter Appell entstand im Zuge der Organisation der Proteste gegen den NATO-Gipfel in Strassbourg und Baden-Baden 2009. Auf dieser Grundlage entwickelte sich das internationale Bündnis „No to war – no to NATO“, eine Zusammenfassung verschiedener Kräfte der Friedensbewegung in vielen (nicht nur) NATO-Ländern. Ein 15-köpfiges Internationales Koordinationskomitees (ICC) orientiert seither die beteiligten Friedenskräfte in den einzelnen Ländern im Wesentlichen auf internationale Aktionen rund um NATO-Gipfeltreffen der Regierungen (2010: Lissabon, 2012: Chicago, 2014: Newport). Es verbreitet Materialien zur Rolle der NATO. Es propagiert die Delegitimierung der NATO. Es vertritt die Losung: „Auflösung der NATO“.
Viele halten diese Parole für eine aussichtslose und daher harmlose Orientierung. Andere scheinen zu glauben, dass eine deutsche Regierung, z.B. unter Einschluss der Partei „Die Linke“ im Rahmen der Bündnisgremien erwirken könnte, dass das Bündnis schließlich von selbst zu der Einsicht kommt, sich als aggressive Militärmaschinerie aufzulösen. Was von solchen Hoffnungen zu halten ist, erfährt man aus einem von Wikileaks veröffentlichten Telegramm der Berliner Botschaft der USA vom 25. November 2009 über ein Gespräch des US-Botschafters Philip Murphy mit Linke-Chef Gregor Gysi, das von Steinbergrecherche veröffentlich und übersetzt worden ist, und in seinem die NATO betreffenden Teil wie folgt lautet: „Gysi wies auf keine Meinungsunterschiede in der NATO-Politik hin (Die Linke fordert die Auflösung der NATO zugunsten einer größeren Sicherheitsgemeinschaft – wie von Rußland vorgeschlagen), aber er versuchte nahe zu legen daß die Forderung der Partei nach Auflösung der NATO ein Weg sei, den gefährlicheren Schritt zu vermeiden, daß Deutschland die NATO verläßt. Er erläuterte, daß die Vereinigten Staaten, Frankreich und GB mit der NATO-Auflösung einverstanden sein müßten, was unrealistisch sei.“ (http://www.steinbergrecherche.com/08dielinke.htm#Schlau3 funktioniert leider nicht mehr, deshalb hier: https://web.archive.org/web/20140728232638/http://www.steinbergrecherche.com/08dielinke.htm) Im gleichen Sinne äußerte sich Gysi im ARD-Sommerinterview vom 18.7.2010: „Nein, nein, ‚Raus aus der Nato‘ haben wir nicht gesagt. Das ist ja viel klüger (sic!) formuliert. Bei uns steht drin, daß wir die Auflösung der Nato wollen. Dazu brauchen wir allerdings die Zustimmung der USA, Kanadas und vieler anderer Länder. Das dauert noch…“
Leider blieb dieser irreführende Holzweg, der nicht nur von Gysi empfohlen wird, lange Zeit als solcher von vielen nicht erkannt. Daher blieb auch vor sechs Jahren der erste Anlauf zur Bildung einer Anti-NATO-Allianz, der mit der Internetseite „Deutschlands NATO-Mitgliedschaft beenden!“ versucht wurde, in den Anfängen stecken. Immerhin aber konnten die Initiatoren nun, da das Bewusstsein ständig wachsender Kriegsgefahr mit der Ukraine-Krise breiteste Kreise ergriffen hat, daran anknüpfen.
Insofern kann im Hinblick auf die nationalen Kampagnen für Austritt aus der NATO in den drei Ländern von einem Reifeprozess der Friedensbewegung gesprochen werden. Im Feuer der NATO-Kriege verbrannt ist die Illusion einer Selbstentsorgung der „NATO auf den Müllhaufen der Geschichte“. Dass sich auch Reiner Braun, einer der Hauptorganisatoren von „No to war – no to NATO“ und Geschäftsführer der Deutschen Sektion der internationalen Juristen-Organisation IALANA von derartigen inhaltslosen Beschwörungen verabschiedet, ist hoffentlich nur noch eine Frage der Zeit. Jedenfalls ist die italienische Sektion von IALANA oder zumindest einzelne Mitglieder schon weiter und beteiligen sich an der Kampagne für den Austritt aus der NATO. Von Austrittskampagnen in anderen NATO-Ländern ist vielleicht das eine oder andere zu lernen, aber keinerlei „Aktion auf internationaler Ebene“ darf uns von der Notwendigkeit ablenken, um nationale Souveränität, Volksdemokratie und eine friedliche Außenpolitik der Regierung des eigenen Landes zu ringen. Daher die Forderung: DEUTSCHLAND RAUS AUS DER NATO – NATO RAUS AUS DEUTSCHLAND!
Siehe auch:
Bundestagsreaktionen auf Offenen Brief „SAGT NEIN… bannt Weltkriegsgefahr!“
„Rekord“ bei den Antworten: 627 von 631
NRhZ 527 vom 09.09.2015
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22015
Offener Brief an die Mitglieder des Deutschen Bundestages
Sagt NEIN, ächtet Aggressionen, bannt die Weltkriegsgefahr!
NRhZ 525 vom 27.08.2015
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=21974
Neues zum Aufruf „Sagt NEIN, ächtet Aggressionen, bannt die Weltkriegsgefahr!“
NATO-frei und US-Truppen-frei in zwei Jahren
NRhZ 522 vom 05.08.2015
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=21894
Quelle: Neue Rheinischhe Zeitung – Aktueller Online-Flyer vom 16. September 2015